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1. Mai zwischen Traditionspflege und Sinnsuche

Wofür steht heute der 1. Mai? Eine Frage, die zu stellen kaum öffentliches Interesse wecken kann, denn zwischen Unkenntnis geschichtlicher Entwicklungen und idiologischer Stereotypie bewegen sich die Reaktionen zumeist desinteressierter Bürger. Ein freier Feiertag, der auch dem Volkslied folgend ein Fest der sich langsam freundlicher zeigenden Natur gewidmet sein könnte und nur noch für sehr kleine Gruppen eine politische Bedeutung trägt. Längst hat sich die Gesellschaft gewandelt und der Arbeitnehmer ist heute in einer rechtlichen Grundposition, die unvergleich mit der früherer Jahrzehnte ist. Ein reiner Gedenktag und dem Selbstverständnis politischer Parteien und Gewerkschaften dienend? Letztere teilen heute weitgehend das Schicksal großer Religionsgemeinschaften und schrumpfen kontinuierlich, dem Desinteresse der Masse geschuldet. Nun haben Gewerkschaften eine Vertretungsmacht, die in gesetzlichen Vorgaben eingebettet ist und dem Heer von Betriebsräten und Funktionären ihre Existenz sichert. Sie vertreten die „Klasse der Arbeitsplatzbesitzer“, der das stete Heer der Nichtbeschäftigten gegenübersteht. Letzteres hat keine Lobby und ist über die Sozialgesetzgebung alimentiert. Gesellschaftlich steht der „Beschäftigte“ sozial in höherem Ansehen, als der „Unbeschäftigte“, zu dem eine soziale Distanz bis in die gesetzliche Bewertung festgeschrieben ist. Lebensunterhalt in Rente bemisst sich an der Zeit und dem Ertrag in der Lebensleistung als „Beschäftigter“. Abgehängt die, die es aus gleich welchen Gründen nicht vollbracht haben das notwendige Rentenkonto aufzufüllen. Die Kategorie der Grundsicherung liegt unter dem, was ein „ordentlich“ Beschäftigter in der Norm von vorgegebenen Mindestjahren erreichen kann. Festgeschriebene Ungleichheit, die nicht das Einzelschicksal oder die Verfügbarkeit von Arbeit berücksichtigt. Und Vollbeschäftigung hat es in unserem Sozialstaat noch nie gegeben. Lebensleistung ist an Bedingungen verknüpft und soll das Gerechtigkeitsgefühl der „Arbeitenden“ befrieden. „Bedingungslose“ Zuwendungen an die Allgemeinheit passen da nicht in den historischen Kontext, auf den sich Gewerkschaften und Parteien bei der Zelebrierung des 1. Mai berufen. Soziale Gerechtigkeit auf eine allgemeine Menschenwürde und ein Grundeinkommen herunter zu brechen würde den Mythos des 1. Mai stören. Eine systemsprengende Idee, die mit der Neuordnung des Sozialsystems liebäugelt bedroht die traditionspflegenden Institutionen Gewerkschaft und Parteivertretung, wäre sie doch die Aufhebung der bisher gelebten Selbstbestimmung. Aus einem zu erkämpfenden Status führt der rechtliche Anspruch auf eine nicht an Bedingungen geknüpfte Lebensgrundlage, die alle teilen. Noch Utopie, aber bereits in Parteien sich formierende Entwicklung. Was würde aus Gewerkschaften und sozial orientierenden Parteien, wenn morgen eine große Mehrheit von Bürgern ein „Bedingungsloses Grundeinkommen“ einfordert? Eine Aufgabe, der sich Gewerkschaften wie Traditionsparteien bisher noch widersetzen, auch wenn die Idee mittlerweilen mit Beispielen und wissenschaftlichen Fürsprechern die Öffentlichkeit sucht. Das abgedroschene Mailied könnte eine frische Neuauflage erfahren. Allerdings mit gravierenden Neuerungen, die auch Gewerkschaften und Parteien nicht in ihren starren Denkgewohnheiten belassen könnten.

Einen schönen 1. Mai

(stk)